Brief an einen blinden Freund
 2008

Brief an einen blinden Freund 

Du weißt, dass ich Anfang September letzten Jahres zur Hochzeit eines Freundes nach Rumänien gereist bin, einen Teil des Reiseberichtes findest du als „Hochzeit auf Rumänisch“ auf meiner Homepage  unter „Reisen“.

Insgesamt gesehen war der Aufenthalt in Transsylvanien aufregend und anregend zugleich, unter anderem habe ich in meinem kleinen Feriendomizil als Untermieter von Ondruschka an der Medea-Musik weitergeschrieben:

Jonas hatte mir ein Keyboard und einen kleinen Computer mit Boxen zur Verfügung gestellt, mit dem ich richtig gut arbeiten konnte.

Erzählen wollte ich dir allerdings von einem Erlebnis, das mich unheimlich ergriffen hat: 

Theo hatte mich zu einem abendlichen Umtrunk in seinem Haus eingeladen, gekostet werden sollte neben dem guten rumänischen Rotwein vor allen Dingen sein selbstgebrannter Obstler aus Äpfeln und Mirabellen. Von dem wirklich guten, zweifach gebrannten Schnaps , kombiniert mit dem Rotwein und einer Geschmacksprobe des Einfach-Gebrannten, der mit seinen 57 Prozent Alkoholgehalt doch sehr brannte und auch die Fähigkeit besitzen sollte, blind zu machen, war ich dann ganz schön beschwipst.

Was es mit dem „blind“ machenden Schnaps auf sich haben sollte, habe ich nicht recht verstanden, also ob das 1:1 gemeint war oder eine Metapher auf den anschließenden Zustand des Zechers  sein sollte ?

Auf alle Fälle habe ich davon nichts getrunken, wenn man von dem Nippen absieht – daran kann es also nicht gelegen haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In der Nacht, nach stundenlangen Gesprächen über unsere gemeinsame Vergangenheit in Norddeutschland, verabschiedeten wir uns. Theo empfahl den kurzen Weg zu meiner Ferien-Datscha über die improvisierte Bachbrücke, die wir allerdings dann nicht mehr fanden, weil es einfach zu dunkel war, also so dunkel, dass ich wirklich nicht mehr meine eigenen Hände sehen konnte, fast nichts ! Wir fielen im strömenden Regen fast gleichzeitig über einen Holzstoss und lachten und ich machte mich dann auf, auf den langen Weg durchs Dorf in vollkommener Dunkelheit, lediglich eine diffuses, graues Stück eines Dachgiebels gegen den schwarzen Himmel diente als Orientierung und natürlich der grobe Kies des Weges unter den Füßen.

Aus der  nun aufkeimenden Panik entstand  Neugier, auch weil ich an dich, deine Blindheit und unsere Gespräch über ein etwaiges Konzert im Züricher Dunkelcafe nachdachte.

Also vertraute ich der Erfahrung des Zuschauens, wenn ich dich gehen und tasten sehe, und hörte auf den Kies: Kiesgeräusch und – Gehgefühl gleich richtiger Weg, ohne Kies gleich Abkommen vom Weg und – das funktionierte !, ganz ohne stolpern, sogar die große Matschebene vor dem Dorfladen überquerte ich mühelos, bis ich dann in der Mitte des Dorfes eine erleuchtete Straßenlaterne erreichte, die mir schnelle klar machte, dass ich durch den Selbstgebrannten nicht blind geworden war.

Weißt du, die Angst vor der Dunkelheit kam nur zweimal auf dem langen Weg: Zum ersten Mal bei Eintritt in die Nacht und dann beim Betreten meiner Wohnung im Dreiviertel-Dunkel.

Am nächsten Morgen dann die verblüffende Erkenntnis: meine Schuhe waren sauber und trocken !

 

Jetzt also möchte mich bedanken für den bisherigen Grundkurs in Sachen „blind sehen“ und „blind vertrauen“.

Ich freue mich auf die weiteren gemeinsamen Wege mit dir.